Goldilocks-Economy? Nicht ganz…

Aktuell befinden sich die Corona-Neufallzahlen in vielen europäischen Staaten auf niedrigen Niveaus, was eine wesentliche Voraussetzung für die breite, nahezu alle Segmente der Wirtschaft umfassende Erholung ist. Allerdings zeigt der zunehmende Anteil der Delta-Variante bei den Neuinfektionen – und die steigenden Fallzahlen in Großbritannien und Portugal – dass das Auftreten neuer Varianten auch zu erneuten Shutdowns und damit wirtschaftlichen Rückschlägen führen kann.

Zuletzt war im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung vermehrt von einer Goldilocks-Economy die Rede – also dem bestmöglichen Zustand einer Volkswirtschaft mit positiven Wachstumsraten, dynamischen Investitionen und Konsum, moderater Inflation, niedrigen Zinsen und hoher Beschäftigung. Diese Kombination gab es zuletzt Ende 2017 in Deutschland, Teilen der Eurozone und in den USA.

Tatsächlich sind die globalen Wachstumsperspektiven für 2021 und 2022 angesichts des Aufschwungs nach der Coronakrise sehr positiv. In Europa unterstützt – neben der schon lange boomenden Industrie – zunehmend auch der Konsum die Konjunktur, nicht zuletzt aufgrund nur moderat gestiegener und zuletzt sinkender Arbeitslosenquoten.

Allerdings sind derzeit auch deutliche Unwuchten erkennbar, die vor allem aus den immer stärker zunehmenden Engpässen bei Zulieferungen, Rohstoffen und Transportkapazitäten resultieren. Viele Unternehmen müssen ihre Produktion deshalb drosseln, obwohl die Nachfrage extrem hoch ist. Erkennbar sind diese ökonomischen Verzerrungen durch den Vergleich des derzeit rekordhohen Auftragsbestands im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschland und der immer noch leicht unter dem Vorkrisenniveau rangierenden Industrieproduktion (Produktions-/Nachfragelücke).

Auch die resultierenden erheblichen Produktionskostenexplosionen sprechen gegen das Bild einer Goldilocks-Economy, denn sie beschleunigen den zuletzt deutlich gestiegenen Trend zu höheren Inflationsraten. Vor allem in den USA wird die ohnehin höhere Inflationsdynamik durch ein Auseinanderklaffen von moderatem Angebot und stark gestiegener Nachfrage am Arbeitsmarkt untermauert. Viele Menschen bevorzugen derzeit die nach wie vor hohe staatliche Arbeitslosenunterstützung oder können die nachgefragten Qualifikationen nicht vorweisen. Daher sind Unternehmen oftmals nur unter Inkaufnahme von höheren Lohnzahlungen in der Lage, freie Stellen zu besetzen.

Für die meisten Aktienindizes dürften die Zeiten hoher zweistelliger Kurszuwächse innerhalb kürzester Zeit damit vorerst einmal beendet sein. Vielmehr ist im zweiten Halbjahr 2021 mit einer erhöhten Volatilität zu rechnen, wenngleich die grundsätzlichen Perspektiven für Aktien angesichts des anstehenden globalen Aufschwungs generell positiv bleiben.

Newsletter vom 07. Juli 2021

Carsten Mumm – Chefvolkswirt und
Leiter der Kapitalmarktanalyse
Privatbank Donner & Reuschel

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