Die EZB lässt sich weiter Zeit

Die Europäische Zentralbank (EZB) nähert sich nur sehr langsam einem weniger expansiven geldpolitischen Kurs an. Zugegeben, die Gemengelage ist derzeit sehr komplex. Die Zwickmühle besteht aus weiter steigenden Inflationsraten, der fehlenden Aussicht auf eine zeitnahe Besserung der Situation bei den Kernpreistreibern Energie- und Rohstoffkosten sowie Lieferengpässen und beginnenden Ausstrahleffekten auf andere Inflationskomponenten einerseits und einem drohenden erneuten, stagflationär wirkenden Angebotsschock im Falle eines kompletten Stopps von Rohstofflieferungen aus Russland andererseits. Auch darf natürlich kein Zweifel an der Refinanzierungsfähigkeit aller Eurostaaten in einem Umfeld bereits deutlich steigender Marktzinsen aufkommen.

Immerhin hat die Notenbank auf der vorösterlichen Sitzung des EZB-Rats die bereits im März geweckte Erwartung der Beendigung der Nettowertpapierkäufe im Rahmen des APP-Programms im dritten Quartal deutlich untermauert und sich trotzdem alle Türen für künftige Leitzinsentscheidungen offengehalten. Leitzinsanhebungen sollen demnach abhängig von der EZB-eigenen Inflations-Projektion für die kommenden Jahre erfolgen. Die Voraussetzung ist ein Erreichen des Inflationsziels von 2 Prozent deutlich vor und ein Halten dieses Niveaus bis zum Ende des Projektionszeitraums, der aktuell die Jahre 2023 und 2024 umfasst.

Sofern der Inflationsdruck in den kommenden Wochen nicht deutlich nachlässt – was aus heutiger Sicht kaum zu erwarten ist – oder die wirtschaftliche Dynamik in der Eurozone erheblich einbricht, sollte die Notenbank diese Bedingung dringend durch eine entsprechende Anhebung ihrer eigenen Projektionen im Rahmen der Ratssitzung Anfang Juni quasi selbst erfüllen. Auch wenn sie steigende Rohstoffpreise und Verzögerungen bei Lieferketten nicht direkt beeinflussen kann, sollte sie der zunehmenden Gefahr einer sich selbst erfüllenden Spirale immer weiter steigender Inflationserwartungen entschiedener entgegentreten. Die konkrete Perspektive von Leitzinsanhebungen im Laufe des zweiten Halbjahres 2022 würde auch den Eurokurs stabilisieren, dessen Schwäche aktuell den Einkauf von in US-Dollar gehandelten Rohstoffen und sonstigen Gütern zusätzlich verteuert und die Inflation noch weiter befeuert. Für Anleger dürfte neben anderen Belastungsfaktoren – v.a. dem Ukrainekrieg – die offene Frage nach der künftigen EZB-Geldpolitik vorerst weiterhin Unsicherheiten mit sich bringen.

Newsletter vom 20. April 2022

Carsten Mumm – Chefvolkswirt und
Leiter der Kapitalmarktanalyse
Privatbank Donner & Reuschel

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